Zwölf Kinder stehen barfuß in schwarzen Kampfkunstanzügen da, atmen tief in ihre Bäuche – und zischen beim Ausatmen so laut, dass man geradewegs erschrickt. „Drachenatem“ heißt das, und es macht den  Vorund Grundschulkindern sichtlich Spaß. Ebenso wie das „Feuerspucken“ , bei dem die Kinder mit Kraft Luft ausstoßen, oder das „Felsbrocken tragen“ , bei dem sie sich vorstellen, Luft wiege etwas und sie müssten sie stemmen. Auf allen Vieren flitzen sie los im „Affenlauf“ , oder sie versuchen „im Spinnenstil“ so schnell wie möglich voranzukommen, wieder auf allen Vieren, aber nun mit Gesicht und Bauch nach oben. Trainer Sandy Schimmer erläutert: „Es ist in asiatischen Sportarten üblich, dass sich das Training an der Natur orientiert. Die Kinder verstehen sofort, was sie machen sollen, und sie machen es gerne.“ Und so sind beim spielerischen, aber anstrengenden Aufwärmtraining alle Kinder begeistert dabei; auch die 5-jährige Laura Bigge.

Zusammen mit ihrem 8-jährigen Bruder Ben kommt Laura jeden Freitagnachmittag in die Taiwan Do Akademie in die Moritzstraße, um hier für eine Stunde Selbstverteidigung zu lernen. Aber nicht nur. Taiwan Do wurde von dem in Krefeld lebenden Diplom-Sportlehrer Mario Frerker als ein Kampfstil entwickelt, der Einflüsse östlicher und westlicher Sportkultur miteinander verbindet und das er eher als ein heilpädagogisches System verstehen möchte. Der Stilbegründer erzählt lächelnd: „Als Kind habe ich im Fernsehen manchmal ‚Mit Schirm, Charme und Melone’ angeschaut. Ich war fasziniert von den Judo- und Karate-Techniken, mit denen sich Emma Peel und John Steed immer verteidigt haben. Das wollte ich auch lernen.“ Als 10-Jähriger begann der heute 55-Jährige mit Judo, später kam Karate dazu. Doch als er schließlich Sportlehrer wurde, begann Mario Ferker, die Kampfsportarten kritischer zu sehen. „Bei Judo, Karate und Teakwon Do geht es um den Wettkampf, also darum, die anderen zu besiegen. Wer ist der Beste? Letzten Endes ist das immer nur der Stärkste oder Ruppigste! Am Schlimmsten ist es beim Thai- oder Kickboxen: eine Kombination aus Dummheit und Aggressivität!“ Das Training bei solchen „kontaktbetonten“ , brutalen Kampfsportarten sei gefährlich und körperlich schädlich. Die Kinder begännen sehr früh, mit vier oder fünf Jahren. Dann seien ihre Gelenke, Knochen und Knorpel noch zu empfindlich für viele Kampfübungen. Verletzungen und Verschleiß seien häufig. Und obwohl sie in diesem Alter noch keine schlimmen Schäden zeigten, müssten die Kinder später mit üblen Folgen rechnen. Abgesehen davon lernten die Kinder dabei, dass Gewalt sich auszahle. Mario Frerker wollte weg vom „Immer-feste-druff“ , dabei aber trotzdem das Positive an asiatischer Kampfkunst nutzen. Und deshalb entwickelte er für Deutschland eine Mischung aus der Kampfkunst Kung Fu Wu Shu und der chinesischen Gesundheitslehre Tai Chi Chuan – Taiwan Do eben. Er beansprucht dafür jedoch nicht die Urheberschaft: „Das Konzept ist 2.500 Jahre alt: Siegen – ohne zu kämpfen.“ Der Schwerpunkt beim Taiwan Do liegt auf Pädagogik und Gesundheitsförderung. Mit den „fünf Säulen“ Atmung, Konzentration, Bewegung, Praktische Lebensphilosophie und Haltung sieht Mario Frerker darin vor allem ein komplexes System, in dem Kinder vom Vorbild der Erwachsenen profitieren. Wenn die kleine Laura und ihr Bruder Tim von Trainer Sandy Schimmer angeleitet werden, ihren Atem ganz bewusst zu spüren: „Jetzt legt die Hände auf den Bauch, atmet tief hinein und fühlt mit den Händen, wie der Bauch gaanz dick wird.“ Dann lernen sie vieles gleichzeitig: Sich zu konzentrieren, ihren Körper zu beobachten und auf ihn zu achten und den Atem willentlich so zu beeinflussen, dass er einen gewissen Effekt hat – sowohl auf den Körper als auch auf den Gemütszustand. Mario Frerker erläutert: „Bis zum siebten oder achten Lebensjahr atmen ja alle Kinder immer in den Bauch. Sie machen noch nicht diese oberflächliche Atmung. Doch mit dem analytischen Denken wird die Atmung flacher – und das macht hektisch. Wir helfen den Kindern, ihre ursprüngliche Atmung nicht ganz zu verlieren.“ Richtig stolz erzählt Frerker von einem aggressiven Jungen, der ihn neulich damit überraschte, dass er bei einem seiner häufigen Wutanfälle sagte: „’Ich geh jetzt erst mal raus atmen. ’ Der Kleine war fünf! Das finde ich phänomenal!“ Seit über 20 Jahren arbeiten Frerker und seine Trainer auch mit Behinderteneinrichtungen zusammen: „Zur Ruhe zu kommen und sich zu konzentrieren, das hilft beeinträchtigten Menschen, und sie können das sehr gut“ , erklärt er. Noch viel länger, bereits seit 1984, unterrichtet Frerker Taiwan Do in Kindergärten und Schulen in Düsseldorf und in Krefeld. Momentan läuft beispielsweise eine Kooperation mit dem Waldkindergarten in Hüls, über die auch Laura und ihr Bruder Ben zu dem Sport gekommen sind. Ihre Mutter Tina Bigge erzählt: „Die Kinder lernen hier eine Form von Disziplin, die ihnen gut tut. Das ist kein blinder Gehorsam, sondern ein Respekt vor Regeln, ohne die der Sport nicht funktioniert.“ Beim Partnertraining zum Beispiel werden die Tritte und Schläge auf den Gegner nur simuliert; die Schüler dürfen sich nicht treffen, um sich nicht weh zu tun. Laura führt heute zusammen mit ihrer Freundin Zoe das Treten und Abwehren vor. Sie beobachten sich gegenseitig aufmerksam – und sie schaffen es schon ziemlich gut, genau auf die Bewegungen der anderen zu reagieren. Dabei trainieren sie zugleich ihre Koordination, ihre Muskulatur, ihre Ausdauer und ihren Willen. Bei der Übung „Drachen-Kata“ müssen die Kinder sogar zehn aufeinanderfolgende Bewegungen schaffen, die zudem mühelos und als harmonisches Ganzes erscheinen sollen – eine Herausforderung auch für die Konzentrationsfähigkeit. 

Als Ausgleich streut Trainer Sandy Schimmer immer wieder kleine Austobemöglichkeiten ein, beispielsweise einen gemeinsamen Kampfschrei. „Seid ihr bereit?“ , fragt sie. „Jaaa“ , schallt es noch ein wenig verhalten zurück. Also Schimmer: „Oh, das klingt aber nicht nach einem kampfbereiten kleinen Drachen. Nochmal: Seid ihr bereit?“ Doch auch bei der „Schildkrötenübung“ , die nun folgt und bei der die Kinder versuchen, sich gegenseitig auf den Boden zu ringen, gilt als oberste Devise: Fairness. Keiner darf sich wehtun. Die Kinder sollen mit Mimik, Gestik, Atmung und Kommunikation versuchen, Gewalt zu vermeiden. Denn die lehnen Mario Frerker und seine Trainer ab: „Taiwan Do ist eine intelligente Kampfkunst, in der zunächst versucht wird, die Körpersprache des Gegenübers zu lesen und darauf zu reagieren“ , erklärt er die Unterschiede. Bens und Lauras Mutter Tina Bigge aber ist froh, dass ihre Kinder lernen, sich notfalls zur Wehr setzen. Obwohl das auch für sie nicht das Wichtigste ist am Taiwan Do: „Meine Kinder sind sehr ruhig und sensibel. Hier können sie sich mit anderen bewegen und austoben, das macht sie ausgeglichener. Und sie sind viel selbstbewusster geworden“ , sagt sie. Und deshalb wird auch Lauras und Bens kleiner Bruder Niko, der mit seinen vier Jahren für Taiwan Do noch zu jung ist, nach den Sommerferien damit anfangen.

Taiwan Do Akademie, Mario Frerker, Moritzstraße 3, 47803 Krefeld, Tel. 02151/755863 www.taiwando.de