„Hallo, ich bin Vincent!“, ruft der neunjährige blonde Junge im Eingangsbereichs des Duisburger Zoos, lässt die Hand seiner Mutter los und streckt sie höflich zum Gruß aus. Er lächelt freundlich und schaut die beiden fremden Frauen, denen er hier gerade zum ersten Mal begegnet ist, neugierig durch seine Brille an. Der gleichaltrige Luis tut es ihm nach. „Ich bin Luis!“, sagt er und lächelt breit. So unvermittelt wie der Einstieg in diese Geschichte beginnt auch unsere Begegnung mit diesen beiden Jungen, die so ungewöhnlich offen und entgegenkommend auf Fremde wirken. Dass Vincent und Luis ihrer Umwelt ohne Argwohn und mit überdurchschnittlicher Neugier begegnen, hat mit einer minimalen chromosomalen Veränderung zu tun, die im Fachjargon als Williams-Beuren-Syndrom bezeichnet wird und die beiden noch auf vielen anderen Ebenen besonders macht.   

Als Williams-Beuren-Syndrom, kurz WBS, bezeichnet man eine Veränderung des Chromosoms 7, die erstaunliche Auswirkungen auf Wesen und Aussehen der Betroffenen nimmt. Benannt wurde die Erkrankung nach den Kardiologen J. C. P. Williams und Alois J. Beuren, die das Syndrom unabhängig voneinander Anfang der 1960er Jahre beschrieben. In der Fachliteratur wurde im Zusammenhang mit dem Williams-Beuren-Syndrom lange von „Elfenkindern“ gesprochen, was mit ihrem außergewöhnlichen Erscheinungsbild zusammenhängt. Betroffene haben meist hellblondes Haar, freundliche blaue Augen, eine kleine Stupsnase und einen breiten, roten Mund mit vollen Lippen und einem schmales Kinn darunter. Häufig sind sie kleiner als für ihr Alter üblich, weisen einen schmalen, zarten Körperbau auf. Manche Quellen mutmaßen gar, im WBS könnte die Grundlage des Elfenmythos liegen, ähnlich wie es bei der Hauterkrankung Porphyrie im Zusammenhang mit dem Vampirismus vermutet wird (siehe moveo-Magazin, November/Dezember 2018). 

Im zwischenmenschlichen Kontakt sind WBS-ler offen, furchtlos und neugierig – was von ihren Mitmenschen zumeist sehr positiv aufgenommen wird. „Wenn wir mit Luis im Urlaub an den Strand fahren, geht er immer irgendwann auf Wanderschaft und spricht Leute an. ‚Hallo, wie heißt ihr? Kann ich auch einen Keks haben?‘, solche Sachen“, erzählt seine Mutter schmunzelnd. Wie zur Bestätigung des Gesagten, wendet sich Luis unvermittelt an einen Zoomitarbeiter. „Hallo, was machst du da?“, fragt er den jungen Mann, der gerade dabei ist, einen Zaun zu reparieren. Überrascht und offensichtlich angetan von dem interessierten Kind, antwortet dieser bereitwillig und ausführlich auf Luis Fragen – und davon hat er einige. 

Nicht nur eine große soziale Offenheit zeichnet Betroffene aus, sondern auch ein bereits früh auftretendes Sprachgeschick und sehr gutes Gedächtnis. Sie unterhalten sich nicht nur gerne, sondern wissen bereits im Kindesalter, sich gewählt zu artikulieren, merken sich komplizierte Begriffe und lernen sehr schnell das Lesen. Ebenso wie zwischenmenschliche lieben Betroffene auch klangliche Harmonie. Viele WBS-ler sind schon früh sehr musikalisch, singen häufig und haben Freude daran, ein Instrument zu lernen – ihr Gehör ist oft sehr sensibel. „Sie mögen keine Lauten Geräusche, vor allem, wenn sie sie noch nicht kennen“, erklärt Dr. med. Elke Reutershahn, Oberärztin der Pädiatrie und Leiterin des Williams-Beuren-Zentrums am Helios Klinikum Duisburg, einem deutschlandweit einzigartigen Zentrum für die Diagnostik und Langzeitbetreuung von Patienten mit Williams-Beuren-Syndrom. Da WBS-ler im Umgang aufgrund ihres gehobenen Sprachvermögens und musischer Begabung, des guten Gedächtnisses und ihrer hohen Aufmerksamkeit sehr intelligent erscheinen, werden sie häufig überschätzt – denn Rhetorik und Musikalität sind Inselbegabungen, denen starke Defizite in anderen Bereichen gegenüberstehen. „Man könnte einem Williams Beuren-Kind zum Beispiel nicht sagen ‚Räum mal dein Zimmer auf‘. Das würde es überfordern. Es wüsste nicht, womit es anfangen soll. Die Betroffenen sind kognitiv und körperlich eingeschränkt, auch wenn sie nicht direkt so wirken“, erklärt Elke Reutershahn. Auch Nierenfehler, Skoliose und Herzkrankheiten sind typische Begleiterscheinungen des WBS. „Vincent hat eine relativ starke Herzschwäche. Früher war es wirklich schlimm. So toben, wie er es heute tut, konnte er lange nicht“, erzählt Vincents Mutter, während sie ihren Sohn beim Herumtollen zwischen den Tiergehegen beobachtet. „Bei seiner Geburt war er sehr klein und leicht. Das ist wohl auch typisch für WBS-Kinder. Dass er das Syndrom hat, wurde damals zum Glück sehr früh entdeckt, weil der Kinderkardiologe, der ihn behandelte, die Symptome erkannte.“ 

Als sich die kleine Gruppe am Ende des Spaziergangs auflöst, schütteln Luis und Vincent zum zweiten Mal an diesem Tag höflich unsere nicht mehr ganz fremden Hände: „Tschüs, auf Wiedersehen“, rufen sie, ehe sie begeistert in Richtung Spielplatz aufbrechen. Die beiden Jungen beeindrucken nachhaltig mit ihrer liebenswerten Arglosigkeit – besonders im direkten Kontrast zu den vielen sozial defensiven und ins Smartphone vertieften Menschen, denen man sonst im Alltag begegnet. Wie oft treffen wir schon einen Fremden, der freundlich Hallo sagt und uns ein anhaltendes Lächeln mit auf den Weg gibt? 

Für die Eltern eines Kindes mit Williams-Beuren-Syndrom bedeutet die Erkrankung allerdings einen zwiegespaltenen Alltag. Zum einen versprühen die kommunikativen kleinen Menschen viel Freude und sorgen immer wieder für Erstaunen. Kehrseite der Erkrankung ist eine starke und lebenslang andauernde Abhängigkeit von Bezugspersonen, ein hoher Bedarf an Aufmerksamkeit und Führung, der sie davor schützt, sich selbst zur Gefahr zu werden. Einen Unterschied zwischen unbedenklichen und gefährlichen Situationen auszumachen fällt WBS-Patienten nämlich sehr schwer.  

Bei Verdacht auf Williams-Beuren-Syndrom beim eigenen Kind wenden Sie sich gerne an das Williams-Beuren-Zentrum im HELIOS Klinikum Duisburg, Dr. med. Elke Reutershahn, OberärztinAn der Abtei 11, 47166 Duisburg , Tel.: 0203 546 2631