„Schon wieder“, denke ich. „Schon wieder hat mein Zug Verspätung!“ Die Anzeigetafel am Krefelder Hauptbahnhof zeigt 25 Minuten an, während die hektische Stimme über die Lautsprecher bereits eine Wartezeit von 30 Minuten ankündigt. Aber was solls! Zum Glück ist mein Handy aufgeladen, die Stöpsel sitzen perfekt in meinen Ohren und aus meiner Tasche ziehe ich gut vorbereitet eine Zeitung – zugegeben ein sehr buntes Blatt mit jeder Menge fettgedruckter Überschriften und privater Fotos prominenter Menschen. Zu viel Text ist langweilig. Zu theoretisch. Langsam steigt ein Hungergefühl in mir auf. 

Ich blicke mich um und entdecke wenige Meter weiter entfernt eine kleine Bäckerei. Ich setze mich sofort in Bewegung, als mir ein gut gekleideter, junger Mann entgegenkommt, der seinen lässig-schwingenden Gang der rhythmischen Musik seiner locker sitzenden Kopfhörer anpasst. Muss das eine coole Musik sein! So cool, dass er mich gar nicht beachtet. Mir ja egal. Schließlich wollte ich  meinem Freund sowieso gerade eine SMS schreiben. Er muss schließlich wissen, dass ich heute eine halbe Stunde zu spät kommen werde. 

„Hey, Sie, was darfs denn bei Ihnen sein“, unterbricht die ungeduldige Stimme der Verkäuferin meine in Gedanken schon fertig formulierte Textnachricht. Was denn, bin ich etwa schon dran? Na gut, ich bestelle einen Muffin mit Zuckerglasur und hole ihn sofort aus der Verpackung. Lecker, denke ich, und tippe schnell weiter auf meiner Handytastatur herum. Autsch! Ein Ellenbogen hat sich in meiner Magengegend verirrt. Kann der nicht aufpassen? Ich schaue von meinem Display auf und blicke einem schlacksigen Jungen ins Gesicht, der nach einem kurzen Gemurmel, das sich wie eine Entschuldigung anhört, weiter irgendetwas in sein Handy tippt. Müssen die denn hier alle mit ihren Handys beschäftigt sein? Ich schaue mich um, und tatsächlich: Viele hier scheinen die Wartezeit mit irgendeiner Beschäftigung überbrücken zu wollen. Entweder sie stieren auf ein Handy oder sprechen hinein, lesen eine Zeitung, seltener ein Buch, oder essen, trinken und lutschen etwas. Der süße Geschmack in meinem Mund erinnert mich an meine eigenen Ablenkungsmanöver.

Ablenkung wovon eigentlich? Ist Warten denn tatsächlich so schlimm? Vorsichtig ziehe ich mir die Stöpsel aus den Ohren, verstaue Muffin und Zeitung in meiner Tasche und schalte mein Handy aus. 

Sonderlich gut geht’s mir erstmal nicht. Ich komme mir etwas hilflos vor, beinahe nackt, fast schon ausgeliefert an die blanke Gegenwart. Wohin mit meinen Händen? Wohin mit meinem Blick? Nervös verstaue ich meine etwas steifen Hände in meinem Mantel und starre unsicher die Gleise an. Mir ist langweilig. Mir ist kalt. Trotzdem stehe ich weiter da, gucke ein bisschen umher und versuche, nicht an das zu denken, was mich sonst immer so zuverlässig über diese langweiligen Situationen hinweg gerettet hat.  Und dann, nach einer ewigen Zeit, die genauso steht wie ich, wird mir langsam anders zumute. Ich vergesse Kälte und Langeweile, unruhige Gedanken und ihnen zustimmende Emotionen. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so gehetzt, nicht mehr so ungeduldig. Meine Hände entspannen in den Taschen. Meine Augen, überhaupt meine Sinne, die zuvor unentwegt beschäftigt waren, beruhigen sich langsam und hören auf, überall herumzuschwirren. Irgendwie, ich kann mir gar nicht erklären, warum, aber ich fühle mich plötzlich ganz ruhig – und das, obwohl ich nichts tue, gar nichts. Keine Ahnung, woran das liegt. Vielleicht bin ich einfach ein Stückchen näher bei mir, ein Stückchen näher im Hier.

Anna Battke, 29 Jahre
Anna war Leistungssportlerin, hat Psychologie studiert und macht jetzt eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Sie ist  Mutter eines Sohnes und lebt gemeinsam mit ihrer kleinen  Familie in Berlin. Ihre beruflichen Interessen gelten vor allem der natürlichen, psychischen Gesundheit des Menschen.