Klo, Kot und Krankheitskeime – das verbanden früher viele mit dem Thema Darm. Doch seit einigen Jahren ist das anrüchige Organ gesellschaftsfähig und sogar zu einem medizinischen Superstar geworden. Nicht zuletzt dank der Studentin Giulia Enders, die in ihrem Medizin-Sachbuch und Bestseller „Darm mit Charme“ amüsant und anschaulich über „pupsen“ und „kacken“ informiert. Und eine Lanze bricht für den unverkrampften, aufmerksamen Blick auf unser „Bauchhirn“ , das unser Leben von der Empfängnis bis zu unserem Tod maßgeblich beeinflusst. Dank dem Mikrobiom darin. 

Professor Dr. Thomas Frieling, Gastroenterologe und Neurogastroenterologe am Helios-Klinikum Krefeld, Experte für den Magen-Darm-Trakt, Leber, Galle und Bauchspeicheldrüse sowie die dazugehörigen Nerven, erklärt das Modewort Mikrobiom so: „Es umfasst alle Bakterien im Darm, das sind zwischen zehn bis 100 Billionen. Man schätzt, dass es etwa 1.800 Gattungen sind, mit bis zu 36.000 Arten. Das Mikrobiom ist ein eigener Organismus, der symbiotisch mit dem Darm und mit dem Menschen lebt.“ Auch auf der Haut, an den Schleimhäuten, im Mund, sogar an den Ellenbogen besiedeln uns Bakterien. Doch 99 Prozent der Mikroorganismen in und auf uns befinden sich im Darm, wo sie es auf ein Gesamtgewicht von eineinhalb Kilogramm bringen. Zu Beginn des Lebens, beim Embryo, stammen die Keime aus dem Mutterleib. Später sammelt der Körper weitere Bakterien, um sein Immunsystem aufzubauen. Kinder, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, sind im Hintertreffen, weil sie viel weniger von den spezifischen Keimen ihrer Mutter mitbekommen haben als Babys, die durch den stressigen Geburtsvorgang „mit allen Wassern gewaschen“ , sprich: allen Körperflüssigkeiten ihrer Mutter, in Kontakt gekommen sind. Auch Muttermilch „impft“ , sodass sich über die Vermittlung von Darmbakterien das Risiko für Allergien, Asthma oder Neurodermitis senkt. Insgesamt soll das Mikrobiom zwei Drittel des Immunsystems ausbilden und damit extrem einflussreich sein – nicht nur bei Allergien, Unverträglichkeiten und Intoleranzen gegenüber Lebensmitteln, sondern auch bei allen möglichen Arten von Krankheiten und sogar bei Gemütszuständen. Prof. Frieling zählt auf: „Die Darmflora wirkt auf die Befindlichkeit und viele Körperfunktionen. Das betrifft meinen Fachbereich, die Gastroenterologie. Aber auch in der Ernährungsmedizin, in der Rheumatologie und Dermatologie sieht man enge Zusammenhänge. Da wird momentan sehr viel geforscht, und ständig werden neue Forschungsergebnisse veröffentlicht.“ Der Arzt gibt ein Beispiel: „Man hat Kot von Ratten mit Diabetes und Übergewicht auf gesunde, normalgewichtige Ratten übertragen, und die haben das dann auch bekommen.“ Ein weiterer Versuch mit der Übertragung von Stuhl und deren frappierender Wirkung findet sich bei Giulia Enders in ihrem Darmbuch. Sie beschreibt, wie sowohl bei einer Gruppe von ängstlichen als auch bei einer Gruppe von mutigen Mäusen die Därme mit einem Antibiotikacocktail von Bakterien gesäubert wurden, um die leeren Därme mit dem zuvor entnommenen Stuhl der jeweils anderen Gruppe zu besiedeln. Und siehe da: Die vorher ängstlichen Ratten wurden mutiger, die mutigen ängstlicher. Professor Frieling kennt noch viele andere solcher vielversprechenden Beispiele von Stuhlübertragungen, aber er schränkt ein: „Das ist alles extrem spannend, aber bisher ist das meiste nur an Tieren ausprobiert worden.“ Eine Art der „Stuhltransplantation“ allerdings hat sich in der Schulmedizin schon etabliert, und die führen auch Prof. Frieling und seine Mitarbeiter im Helios-Klinikum manchmal durch. Der Gastroenterologe erläutert: „Wenn ältere Patienten die Darminfektion ‚Clostridium-Kolitis‘ nach einer Antibiotikatherapie bekommen und sie wiederkehrend ist, übertragen wir Kot von einem gesunden Spender. Das Verfahren hat eine Heilungsrate von 80 bis 90 Prozent, das ist enorm.“ Stuhltransplantationen bei anderen Indikationen seien zur Zeit  nicht gerechtfertigt, da sie keine sicheren Effekte zeigten und die Gefahr, ungewollt mit den nützlichen Bakterien auch Krankheiten oder Allergien zu übertragen, noch zu groß sei. Was häufig gemacht wird, etwa bei Reizdarm oder chronisch-entzündlichem Darm, ist die gezielte Gabe von sogenannten Probiotika. Das sind apathogene, also nicht krankmachende Keime, die in der Apotheke erhältlich oder in geringerer Konzentration auch in Joghurt-Zubereitungen aus dem Supermarkt zu finden sind. Diese Bakterien wie Lactobazillen und Bifidobakterien wirken erwiesenermaßen positiv auf die Darmgesundheit. Laut Giulia Enders können Probiotika die Darmzotten, das sind die unzähligen kleinen Ausstülpungen darin, „einbalsamieren“ und so pflegen und schützen, und sie können kleine Mengen von Abwehrstoffen gegen fremde Bakterien herstellen. Ob damit auch wirksam und gezielt gegen Allergien, Neurodermitis, Gelenkbeschwerden, Übergewicht und Diabetes geholfen werden kann, wird derzeit noch erforscht. Neben den Probiotika sind auch viele andere Bakterien in unserem Mikrobiom Hoffnungsträger des medizinischen Fortschritts:

Möglicherweise sind ungünstige bakterielle Verhältnisse im Darm maßgeblich an depressiven Verstimmungen beteiligt, und vielleicht könnten Antidepressiva demnächst durch eine angepasste Ernährung oder schlichte Bakteriengabe ersetzt werden? Da die Darmorganismen so eng mit dem Immunsystem zusammenarbeiten, wird auch die Entstehung von Krebs inzwischen als mikrobiotische Funktionsstörung untersucht. Kein leichtes Unterfangen bei bis zu einhundert Billionen verschiedenen Bakterien, zumal die Mikrobiome sich nicht nur geographisch und ernährungsbedingt stark voneinander unterscheiden, sondern jeder einzelne Mensch sein eigenes, individuell zusammengesetztes Mikrobiom besitzt. Dass sich den Lebensumständen entsprechend auch verändern kann, etwa durch die Ernährung oder durch Medikamente.

Sowohl die Buchautorin Giulia Enders als auch der Gastroenterologe Prof. Frieling glauben aber dennoch, dass wir alle auch jetzt schon viel dafür tun können, unser Mikrobiom möglichst gesund zu halten: mit probiotischen Lebensmitteln, zuckerarmer, ballaststoff- und vitaminreicher Ernährung, ausreichend Schlaf, möglichst wenig Stress, viel Sport und Spaß an der frischen Luft. Das mag wenig spezifisch klingen, leuchtet aber ein. Denn was unserem Körper und unserer Seele gut tut, das wirkt sich auch auf unsere vielen kleinen Mitbewohner im Darm aus – und die können dann da gut gepflegt und motiviert ihre Arbeit machen.