Bald ist mein Leben vorbei. Das meine ich nicht etwa so wie vor vielen, vielen Jahren, als mich mit 18 Jahren meine erste große und - wie ich damals glaubte - einzige Liebe nach nur drei Wochen Beziehung verließ. Nein, dieses Mal meine ich es wirklich ernst, auch wenn damals mein Leben ebenso am Ende zu sein schien wie jetzt. Nur bin ich heute 86 Jahre alt und von Metastasen übersät. Die Ärzte wollen nichts von Chemotherapie oder OP hören, genauso wenig wie ich. Sie sagen, ich solle mein Leben, so lange es eben noch geht, genießen. Genießen. Nur ist das gar nicht so einfach. Es ist nicht so, dass ich mich nicht darum bemühen würde. Ich gehe jeden Tag spazieren oder schwimmen, treffe alte Freundinnen, manchmal schaue ich nach dem Grab meines Mannes, singe ihm ein Liedchen und stelle ihm einen Rosenstrauß hin, dann wieder besuche ich meine Kinder und Enkelkinder, spiele und tanze mit ihnen und fahre zufrieden nach Hause, wo ich mich häufig der Kalligraphie widme. Es ist wirklich nicht so, dass ich meine Tage nicht zu füllen wüsste. Aber trotz allem. Da sind auch diese einsamen Momente, die mich innerlich aufreiben. Wenn ich abends im Bett liege oder bei uns im Rosengarten auf einer Bank sitze und zu entspannen versuche, schleichen sich diese trüben Gedanken in meinen Geist, die mir den erhofften Moment der Ruhe mit ihrem Lärm verderben. Ich fühle mich dann einsam, nutzlos und sehr alt. Dann schmerzen mich der Gedanke an den Tod meines Mannes und der mitleidige Blick in den Augen meiner Kinder, den ich ihnen und mir am liebsten ersparen würde. Dann spüre ich so etwas wie Angst. Dieses Gefühl muss ich jetzt mit 86 Jahren erst neu kennenlernen. Denn vor dem Leben hatte ich nie Angst. 

Aber jetzt, da mein Leben zu Ende geht, ist sie plötzlich da. Ich möchte es mir kaum eingestehen. Aber ich habe schreckliche Angst vor der Zukunft. Vielleicht nicht vor der unmittelbaren Zukunft, sondern vor dem, was danach kommt. Ja, wie soll ich sagen, ich muss wohl Angst vor dem Tod haben. Ich blicke auf das Rosenbeet vor mir. Hier auf der Bank lässt es sich im Grunde genommen gut aushalten. Die Frühlingssonne wärmt meinen müden Körper und meinen angestrengten Geist. Die Rosen blühen jetzt zu ihrer schönsten Zeit. Man kann ihnen fast nicht verzeihen, dass einige von ihnen schon ein paar wenige Blüten haben fallen lassen. Da sehe ich plötzlich ein kleines Mädchen mit seinen Eltern den Weg entlang spazieren. Es ist noch etwas wackelig auf den Beinchen, aber steuert zielsicher auf mich zu. Seine kleine Hand hat es zu einer entschlossenen Faust zusammengeballt und öffnet sie auch dann nicht, als es in einem unaufmerksamen Moment hinfällt. Schnell rappelt es sich wieder auf und lächelt mich an. Dann hält es mir seine kleine Hand entgegen, öffnet sie und reicht mir ein zerknittertes Rosenblatt hin. Ich will mich soeben bedanken, als das kleine Mädchen schon wieder weiter stapft, weiter auf der Suche nach abgefallenen Rosenblüten. 

Danke, kleines Mädchen, denke ich. Ohne, dass du es weißt, hast du mir soeben die alten Augen geöffnet. Was sollten wir denn auch schon anderes tun mit verblühten Rosenblüten als mit ihnen zu spielen? Wie sollten wir dem Tod anders begegnen als einem Spielgefährten? Vielleicht wird dieser Gedanke morgen schon wieder verblassen. Vielleicht sterbe ich morgen oder übermorgen. Aber heute jedenfalls, da will ich keine Angst mehr haben. Denn heute, da halte ich eine Rosenblüte von einem kleinen Mädchen in meiner Hand. 

Anna Battke, 29Jahre
Anna war Leistungssportlerin, hat Psychologie studiert und macht jetzt eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Sie ist  Mutter eines Sohnes und lebt gemeinsam mit ihrer kleinen Familie in der Nähe von Koblenz. Ihre beruflichen Interessen gelten vor allem der natürlichen, psychischen Gesundheit des Menschen. Gerne wechselt sie beim Schreiben ihrer Kolumne die Rollen und Perspektiven.