Der Regenwurm besteht aus zahlreichen zylindrischen Gliedern. Wenn nur ein einziges beschädigt ist, wird die Fortbewegung für den Wurm schwer: Er bewegt sich langsam, eingeschränkt und kann sein Ziel fast nicht mehr erreichen. Was beim Wurm eine nachvollziehbare Reaktion ist, ist für viele Menschen am eigenen Körper noch schwer einzusehen: Dass der Rücken schmerzt, wenn die Augen nicht durch entsprechende Sehhilfen gestärkt werden, oder das Knie beim Laufen blockiert, weil der Kiefer nicht richtig schließt, ist eine Verbindung, die in der Medizin schon lange besteht. Die Station für Schmerztherapie am Hospital zum Heiligen Geist in Kempen hat sich zur Aufgabe gemacht, die körperlichen Zusammenhänge der Schmerzentstehung für Patienten zu visualisieren. Hochmoderne Technik hat dafür schon vor Jahren in Kempen Einzug gehalten.

„Wenn wir das Bild des Regenwurms auf den Schmerz übertragen, haben wir auch beim Schmerz unterschiedliche Glieder, die nebeneinander oder miteinander wirken können“, erklärt Dr. Ralf Jungbluth, Oberarzt der Abteilung für Schmerztherapie. „In der Schmerztherapie untersuchen wir diese Zusammensetzung. Wir betrachten die Orthopädie, die Augenheilkunde, den HNO-Bereich, den internistischen Bereich und genauso die Psyche.“

Wer zu Dr. Jungbluth und seinen Kollegen überwiesen wird, ist durch den Schmerz schon seit langer Zeit eingeschränkt: Die Berufstätigkeit kann nicht mehr richtig ausgeübt werden, Treffen mit Freunden werden zur Last und alltägliche Aufgaben, wie das Einkaufen oder die Blumen im Garten zu gießen, zu einer unüberwindbaren Hürde. Diverse Gänge zu Schulmedizinern auf der Suche nach dem Schmerzursprung liegen hinter den Patienten. „Es gibt aber eben nicht nur diesen einen Ursprung“, erklärt der Oberarzt. „Wir arbeiten deswegen hier im Hospital mit einem multimodalen Ansatz, der verschiedene Behandlungs- und Therapieelemente kombiniert.“ Zum Team der Station gehört zum Beispiel Orthopädietechniker Dirk Grabitz, der für das zugehörige Sanitätshaus Jansen „aktiv medical“ arbeitet. Mit einem hochmodernen Orthosense-Gerät, einem außergewöhnlichen 3D-Scanner, prüft er die Verspannungspunkte im Körper des Patienten. Mithilfe reflektierender Infrarotstrahlen, einem Sensor und einer Kamera erschafft das Gerät eine Abbildung des Ist-Zustandes des Körpers auf dem Bildschirm.

In der Behandlung befindet sich heute ein 56-jähriger Krefelder, der schon seit vielen Jahren unter heftigen Rückenschmerzen leidet. Immer wieder verwandeln sich diese in plötzliche Migräneanfälle. „Bei dem Screen des Patienten sehen wir zum Beispiel, dass das Becken schief steht und sich dieser Schiefstand auf die Schultern und den Kopfbereich auswirkt“, erklärt Grabitz. „Die Schiefstellung des Kopfes kann ein Zeichen dafür sein, dass die Sehhilfe überprüft werden muss. Gleichzeitig testen wir, ob mit sensomotorischen Einlagen eine Besserung erzielt werden kann.“ Am Bild verdeutlicht der Techniker dem Patienten den Befund: Die unterschiedlichen Blautöne kennzeichnen Fehlstellungen genauso wie Belastungen und Schmerzzentren. Der 56-Jährige hört aufmerksam zu. Etliche Gänge zu Fachärzten sind seiner Krankenhausüberweisung vorausgegangen. Ein Augenarzt war nie dabei. „Ich wäre nie im Leben darauf gekommen, dass ich vielleicht einfach eine neue Brille brauche“, sagt er.

Seinen Befund erklärt Grabitz nicht nur dem Krefelder, sondern nimmt ihn mit in das regelmäßige Teamgespräch. Die Behandlungsgeschichte sowie der Therapieplan jedes einzelnen Patienten der Station werden hier mit allen Ärzten, Therapeuten, Psychologen und Co-Therapeuten gemeinschaftlich besprochen.

Auch die psychologischen Psychotherapeuten Katharina Jansen und Julia Weghmann tragen einen wichtigen Teil zur Analyse des Patienten bei. Mit Hilfe des Biofeedbackgerätes haben sie bereits die mentale Schmerzbelastung des 56-Jährigen untersucht. Elektroden am Rücken und ein Multisensor am Ringfinger, der Puls, Temperatur und Hautleitwert misst, erstellen durch das Gerät ein Elektro-Muskel-Gramm. Unterschiedliche Parameter machen sichtbar, dass sich der Patient auf einem hohen Stresslevel befindet. „Der Leitwert startet bei 15“, sagt Weghmann und zeigt auf die zugehörige Linie. „Ein Patient in einer guten mentalen Verfassung startet bei einem Wert von zwei oder drei.“

Durch unterschiedliche Tests versuchen die psychologischen Psychotherapeuten herauszufinden, welche Faktoren des täglichen Lebens den Krefelder beeinflussen. Zuerst lässt Jansen ihn das Alphabet rückwärts aufsagen. Der Blutdruck und auch der Hautleitwert des Patienten bleiben konstant und verändern sich nicht. Anders reagiert der Schmerzpatient, als ihn Weghmann nach seiner beruflichen Karriere fragt. Die Graphen schießen nach oben, ohne, dass sich das Gesicht oder die Körperspannung des Patienten sichtbar verändern. Mithilfe der Biofeedback-Software zeigen die Klinik-Therapeuten nun dem Krefelder, wie er sein Stresslevel kompensieren kann. Er verändert seine Haltung, richtet seinen Rücken auf und stellt die Füße parallel nebeneinander. Gedanken an den Urlaub und an das Weihnachtsfest, das er nach eigener Aussage besonders mag, lassen die Graphen langsam herabsinken. Der 56-Jährige sieht in der Visualisierung, dass sich sein Mentalzustand verändert. „Bei chronischen Schmerzzuständen spielt oft eine psychologische Komponente mit“, erklärt Jansen. „Das Gerät hilft uns, auch Patienten, die sich mit der Auseinandersetzung der eigenen Psyche schwer tun, zu zeigen, dass die mentale Verfassung ein Schmerzverstärker sein kann.“ Beim Krefelder hat die Visualisierung geholfen. Er nimmt sich vor, seinen beruflichen Status noch einmal zu überdenken.

Noch eine Woche lang wird er im Hospital zum Heiligen Geist behandelt werden. Schon jetzt hat er gemerkt, welche Glieder ihn im eigenen Körper wie den Regenwurm daran hindern, sich gesund durch das Leben zu bewegen. „Unser Ziel ist es, dem Patienten eine Idee davon zu geben, an welchen Baustellen er nach seinem Aufenthalt weiterarbeiten kann“, sagt Dr. Jungbluth. „Am Ende kann er nur mit seiner eigenen Mithilfe eine höhere Lebensqualität erreichen.“ 

Hospital zum Heiligen Geist, Von-Broichhausen-Allee 1, 47906 Kempen, Telefon: 02152 142 0, www.krankenhaus-kempen.de