Der Mensch verfügt über fünf sogenannte „Sinne“: Riechen, Schmecken, Hören, Sehen und Tasten. Mithilfe der Signale dieser Sinne steuert uns das Gehirn durch den Alltag und löst bestimmte Emotionen oder reaktive Handlungen aus. Normalerweise filtert unser Denkapparat viele der Wahrnehmungen heraus, da er sie nicht braucht: Hintergrundgeräusche, Beigeschmäcker, flüchtige Gerüche oder zwischenmenschliche Schwingungen. Es gibt allerdings Menschen, bei denen dieser körpereigene „Filter“ fehlt, die ihre Umwelt intensiver und dezidierter wahrnehmen als der Großteil der Bevölkerung. Man nennt sie hochsensibel. Denise Valica und Heiner Fischer gehören zu dieser Gruppe Menschen, die mit überdurchschnittlich feinen „Antennen“ für ihre Umwelt ausgestattet sind. Als Eltern je einer Tochter haben die beiden zusätzlich zu ihren persönlichen Eindrücken bereits die Erfahrung gemacht, ein hochsensibles Kind zu betreuen – beide Mädchen zeigen ebenfalls Merkmale von Hochsensibilität. Um aktiv in den Austausch mit anderen Eltern gehen zu können und die Symptomatik für Betroffene verständlicher zu machen, haben sie vor einem Jahr den Gesprächskreis „Hochsensible Familie“ gegründet.

Die Gruppe trifft sich regelmäßig in den Räumlichkeiten der Selbsthilfe-Kontaktstelle an der Mühlenstraße in Krefeld und soll auch dazu dienen, für mehr Selbst- und Fremdakzeptanz zu sorgen. Denn Hochsensibilität wird oft missverstanden – als Krankheit, als Last und als Grund zur Sorge. „Hochsensibilität ist eine Persönlichkeitseigenschaft, keine Krankheit“, erklärt Heiner Fischer. In Deutschland herrschen immer noch stark stigmatisierte Vorstellungen davon, wie ein „optimaler“ Mensch zu funktionieren hat. Eine zielstrebige Laufbahn von der Schule über die Berufswahl bis zur Rente gilt als das Optimum in der Leistungsgesellschaft. Für viele Positionen werden Durchsetzungsvermögen, Schnelligkeit und körperliche sowie geistige Gesundheit vorausgesetzt. Sensibilität ist ein Begriff, der hierzulande noch immer negativ konnotiert ist. Hochsensibilität wird deshalb häufig mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen gleichgesetzt – eine Ansicht, gegen die sich Denise Valica und Heiner Fischer ganz klar positionieren. „Wenn es eine Krankheit wäre, hätte es ja nur schlechte Seiten. Das ist bei unserer Sensibilität aber nicht der Fall. Eine verstärkte Wahrnehmung kann auch Vorteile haben“, so Denise. 

Dennoch mussten auch die beiden zunächst herausfinden, was ihre überdeutliche Wahrnehmung zu bedeuten hatte und lernen, im Alltag damit umzugehen. Reize, Eindrücke, Gefühle – ungefiltert, den ganzen Tag – das kann schon anstrengend werden. „Situationen mit sehr vielen Menschen in geschlossenen Räumen sind sehr schwierig. Ein Beispiel sind Hauptbahnhöfe, wo es laut und hektisch zugeht. Wenn ich in einer solchen Situation bin, muss ich mir einen Ort suchen, wo es ruhiger ist, damit ich mich ordnen kann“, erklärt Denise Valica. Hochsensibilität ist kein Zustand, der sich anoder ausstellen lässt; deshalb helfen nur klare Strukturen und Ruhepausen, den Informationsüberschuss zu sortieren. Für hochsensible Kinder liegt hier natürlich eine besondere Schwierigkeit. Sie müssen den starr vorgegebenen Schulalltag meistern, obwohl sich ihre Bedürfnisse oft sehr stark von denen ihrer Mitschüler unterscheiden. Den Wunsch nach Rückzugsmöglichkeiten und selbst gesteckten Grenzen verspüren hochsensible Kinder genauso wie Erwachsene. „Ich wusste als Kind schon, dass ich irgendwie anders ticke und dachte lange, ich wäre die einzige, die so ist“, erinnert sich Denise Valica und fährt fort: „Ich war schüchtern und introvertiert. Wilde Sachen wie Achterbahnfahren oder so etwas wollte ich nie mitmachen, weil mir das Angst machte. Vieles davon entdecke ich bei meiner Tochter Zoé wieder.“ Hochsensible Kinder sind oft besonders anhänglich und zeigen ein hohes Nähebedürfnis zu ihren Bezugspersonen. Sie reagieren stark auf die Beschaffenheit von Kleidungsstoffen, die Geschmäcker von Speisen und Getränken und brauchen lange zum Einschlafen. Außerdem zeichnen sie sich durch sehr komplexe Gedanken aus, die sie oft unvermittelt äußern. Wie ihre Mutter ist auch Zoé auffallend aufmerksam. Für eine Dreijährige scheint sie vieles sehr genau zu verstehen, zieht sich aber häufig unangekündigt aus dem Gespräch zurück, um ihren Gedanken nachzugehen. Das kleine Mädchen weiß sehr genau, mit wem und worüber sie sprechen möchte. Aufgrund ihres ungewöhnlichen Verhaltens werden hochsensible Kinder häufig mit ADHS oder Autismus fehldiagnostiziert. „Die Krankheiten ähneln sich manchmal. Es gibt hochsensible Kinder, die sind aufgrund der vielen Reize sehr laut und extrovertiert. Da wird dann auf ADHS geschlossen. Bei sehr ruhigen, unsicheren Kindern ist es dann schnell eine autistische Störung“, erklärt Denise Valica. Es ist wichtig, dass Eltern, deren Kind wohlmöglich hochsensibel ist, oder die vermuten, selbst diese Eigenschaft zu haben, nicht sofort zu Medikamenten greifen. Zunächst sollte mit einem Psychologen oder anderen Betroffenen gesprochen werden. „Unsere Familiengruppe ist offen; hier können jederzeit Eltern dazukommen, die unsicher sind oder Fragen haben“, verspricht Heiner Fischer. Nach den Treffen besteht die Möglichkeit, auch persönliche Anliegen mit den Gruppenleitern zu besprechen. Auf der Homepage ihres Gesprächskreises haben die beiden außerdem einen Test integriert, mit dem Eltern das Verhalten ihrer Kinder auf eine mögliche Hochsensibilität prüfen können. 

Wichtig ist Heiner Fischer und Denise Valica, dass Eltern und Kinder nicht in einen Sorgentunnel geraten. „Natürlich ist es am Anfang nicht ganz einfach. Aber ich würde meiner Hochsensibilität mittlerweile fünf von fünf Sterne geben. Wie eine gute Amazon-Kundenbewertung“, lacht Heiner Fischer. Was viele Außenstehende vergessen, ist, dass Hochsensible nicht nur die negativen Eindrücke stärker wahrnehmen. Ein feineres Gespür ermöglicht es ihnen ebenso, Sinnesreize aufzunehmen, die normalsensiblen Menschen verborgen bleiben: bereichernde Eindrücke. Unser Alltag ist voll von Düften, Genüssen und Melodien, die eine intensive Wahrnehmung noch mehr begeistern können als eine gewöhnliche: feinere Antennen – besseres Signal. 

Heiner Fischer & Denise Valica, Gesprächskreis Hochsensible Familie, Mail: info@hochsensiblefamilie.de, Web: www.hochsensiblefamilie.de