Man sieht ihm seine Krankheit nicht an: Udo Brückner ist ein stattlicher Mann mit strahlenden Augen, der viel und verbindlich lächelt. Auf die Frage, seit wann er von seiner HIV-Infektion weiß, wird der 51-Jährige ernst und antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Seit dem 10.5.1988.“ Damals sei für ihn eine Welt zusammengebrochen. Doch als sein Arzt ihm sagte, „Sie haben vielleicht noch sechs Monate zu leben“ , da habe er geantwortet: „Das werden wir ja sehen!“ Tatsächlich lebt Udo Brückner seit mittlerweile 26 Jahren mit der Krankheit, die damals so furchterregend und todbringend erschien wie heute das Ebola-Virus. Als Aids 1981 in den USA erstmals auftauchte, innerhalb der nächsten Jahre epidemisch um sich griff und viele junge Menschen dahinraffte, war die Krankheit noch so unbekannt und unerforscht, dass eine Infektion mit dem Erreger HIV einem Todesurteil gleich kam. Da anfangs vor allem schwule Männer und Drogenabhängige von der Autoimmunerkrankung befiel, wurde Aids schnell als „Schwulenseuche“ abgetan, von Moralaposteln sogar als „Strafe Gottes“ gegeißelt. Verleugnung, Panik, Abscheu – das waren die häufigsten Reaktionen auf die rätselhafte neue Krankheit. Das änderte sich, als 1985 mit Rock Hudson einer der beliebtesten Hollywoodschauspieler an Aids starb. Hudsons enge Freundin Elisabeth Taylor begann nach seinem Tod um Unterstützung und Akzeptanz für HIV-Infizierte zu werben und vor allem: Geld für die Erforschung von Aids zu sammeln. Seither konnten in der medizinischen Behandlung von Aids große Fortschritte gemacht werden. Zwar ist das „Acquired Immune Deficiency Syndrome“ (AIDS), übersetzt in etwa „Erworbenes Immunschwächesyndrom“ , immer noch nicht heilbar . Schätzungen zufolge sollen inzwischen knapp 40 Millionen Menschen weltweit daran gestorben sein. Etwa 35 Millionen sind mit HIV infiziert. Doch es gibt heute mehr als 20 Wirkstoffe, die HIV an der Vermehrung im Körper hindern. Wenn Infizierte rechtzeitig eine sogenannte antiretrovirale Therapie (ART) gegen HIV beginnen und konsequent weiterführen, bestehen gute Chancen, über viele Jahre mit dem Erregervirus zu leben. Zumindest in Deutschland und Mitteleuropa, wo diese Medikamente ausreichend zur Verfügung stehen. 

Udo Brückner nimmt drei verschiedene Präparate parallel. Er erzählt: „Anfangs bekam ich nur ein Medikament. Jetzt schlucke ich morgens fünf Tabletten und abends vier. Immer, auch wenn es manchmal schwer fällt.“ Die Kombination verschiedener Präparate ist üblich und hilft, den AIDSErreger im Körper so weit zu unterdrücken, dass er nicht mehr nachweisbar ist. Das sei natürlich gut, findet Udo Brückner , aber es gebe auch unangenehme Nebenwirkungen. Er zählt auf: „Der Arzt sagt zwar, das käme nicht von den Medikamenten. Aber ich bin davon überzeugt! Ich hatte schon Nierensteine, einen Leistenbruch, Krampfadern, sogar die Schlagader war schon verstopft. Jetzt habe ich in der Leiste wieder eine Ader zu.“

Am nächsten Tag soll die Ader in der Leiste beim Arzt behandelt werden. Udo Brückner hat Angst vor diesem Besuch. Er möchte, dass ihn jemand begleitet. Deshalb ist er heute zur Aids-Hilfe Krefeld gekommen und spricht mit Judith Dewald und Patrizia Helten, zwei von derzeit sechs Mitarbeiterinnen dort. Judith Dewald beruhigt Udo Brückner; natürlich werde sie mitkommen. Der „Klient“ , wie bei der AIDS-Hilfe HIV-Infizierte genannt werden, strahlt: „Die Damen sind immer für mich da, wenn ich sie brauche! Sie unterstützen und beschützen mich. Manchmal ist mir das richtig peinlich.“ Judith Dewald lächelt ihn an und wiegelt ab: „Ach was, du hilfst uns doch auch dauernd.“ Sie zählt auf, wie Udo Brückner sich bei der AIDS-Hilfe nützlich macht: „Er holt zu Fuß mit dem Einkaufswagen das Wasser für uns ab, stempelt die Infopost und kauft für die Selbsthilfegruppe ein.“ Auch für seine alte Nachbarin erledigt Udo Brückner jeden Tag die Einkäufe. Ansonsten hat er keine Beschäftigung. Er lebt von der Grundsicherung. Seine letzte Berufstätigkeit liegt Jahre zurück: Als dort bekannt geworden sei, dass er HIV-infiziert ist, habe man ihn gemobbt, bis er von selbst gegangen sei. 

Udo Brückner seufzt: „Das ist das Schlimmste. Wie die Menschen reagieren, wenn sie hören, dass ich positiv bin. Es gibt manchmal Tage, da könnte ich mir einen Strick nehmen.“ Auch privat ist Udo Brückner vieles abhandengekommen. Sein Ex-Freund, der ebenfalls HIV-positiv war, lebt nicht mehr. Zu Eltern und Geschwistern ist der Kontakt abgebrochen. Eine neue Liebe? Resigniert winkt Udo Brückner ab: „Ich bin ja ehrlich und sage sofort, was los ist. Danach melden die sich nie wieder.“ Nun schaltet sich Judith Dewald wieder ein. Die Sozialarbeiterin legt die Hand auf Brückners Unterarm und sagt: „Aber hier hast du wieder Freunde gefunden, oder? Jetzt hast du doch eine gute und stabile Anbindung, Udo.“ Tatsächlich ist die psychosoziale Unterstützung eine sehr wichtige Funktion, die die AIDS-Hilfe Krefeld für die etwa 120 Infizierten, die regelmäßig kommen, hat: sie aufzufangen, einzubinden, ihnen Mut, Vertrauen und Hilfe zu geben. Durch die erwähnten medizinischen Fortschritte werden HIV-Infizierte mittlerweile viel älter als früher. „Zum Glück“ , so Judith Dewald, „früher haben wir sehr viel Sterbebegleitung machen müssen. Das kommt jetzt nur noch relativ selten vor.“ Aber viele Klienten sind – wie Udo Brückner –isoliert, verwahrlost und hilflos. Sie brauchen Begleitung zu ärzten, ämtern, manchmal auch zur Bank, zum Friseur , zur Schuldnerberatung, vielleicht zum Bewährungshelfer . Sehr wichtig sei auch die „aufsuchende Hilfe“ der 13 HIV-Infizierten in Krefeld, denen es so schlecht gehe, dass sie nicht mehr aus ihrer Wohnung herauskämen. Keiner von ihnen wollte uns ein Interview geben. Judith Dewald begründet: „Sie schämen sich und haben Angst, erkannt zu werden. AIDS wird in unserer Gesellschaft immer noch sehr geächtet!“ Deshalb kämpft die AIDS-Hilfe für mehr Akzeptanz und Aufklärung. Hier in Krefeld wurde dafür im Oktober der beliebte Seidenraupenlauf unter das Motto „Sportler gegen Stigma“ gestellt. Auch beim diesjährigen Welt-AidsTag am 1. Dezember wird die Stigmatisierung HIV-Infizierter ein Hauptthema sein. Und nicht nur an diesem Tag, sondern regelmäßig gehen Mitarbeiterinnen der AIDS-Hilfe Krefeld in Schulen, um Jugendliche über HIV und Safer Sex aufzuklären. „Das ist das Wichtigste“ , findet Udo Brückner, „das muss man den jungen Leuten sagen: ‚Macht´s unbedingt immer mit!‘“ Aber auch, dass HIV-Infizierte keine Aussätzigen sind, mit denen man nichts zu tun haben sollte.“

Aids-Hilfe Krefeld e.V, Rheinstr. 2-4, 47799 Krefeld, Eingang Philadelphiastraße, Tel.02151/657290 
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