Helga Wagner wurde am 16.06.1921 geboren. Sie erlebte die Weimarer Republik, überlebte den Zweiten Weltkrieg, half, Deutschland in der Nachkriegszeit wieder aufzubauen, und genoss das Wirtschaftswunder in vollen Zügen. Heute ist Helga Wagner 95 Jahre alt. Ansehen kann man ihr das Alter wahrlich nicht. Sie kramt ihren Personalausweis aus dem Portemonnaie und streckt ihn voller Stolz zum Beweis nach oben. Die in Uerdingen geborene Rentnerin hat sich schon immer viel bewegt, fuhr bis zu ihrer Hüftoperation stets mit dem Fahrrad. Leidenschaftlich löst sie Kreuzworträtsel und liest Western. Am liebsten isst sie Eintöpfe, aber nur am Wochenende. Unter der Woche gibt es viel Obst und Gemüse. Den Seniorenclub der Krefelder Familienhilfe besucht sie dreimal wöchentlich. Dort nimmt sie am Sitztanz teil und macht Gedächtnistraining, außerdem leitet sie den Chor. Abgesehen von den Hüftproblemen und dem seit Jahrzehnten medikamentös behandelten Bluthochdruck war sie nie wirklich krank. Hinterfragt hat sie ihre Art zu leben nie; sie hat es einfach so gemacht.

Dass Helga Wagner mit ihrem Lebenswandel ganz instinktiv einen großen Beitrag dazu geleistet hat, bald in den Club der 100-Jährigen aufgenommen zu werden, weiß Dr. med. Friedhelm Späh, ehemaliger Leitender Oberarzt am Herzzentrum Krefeld Niederrhein und Ärztlicher Leiter des Prevention Centers (HPC) am Krefelder Helios Klinikum. Späh ist Experte in Bezug auf individuell alltagstaugliche Präventionsmaßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit stark eingespannter Menschen und kennt den Schlüssel für ein möglichst langes Leben. „Grundsätzlich ist es wichtig, eine Balance zwischen An- und Entspannung im Leben zu finden. Es sind die Extreme, die einen Organismus belasten und lebensverkürzend wirken“, erklärt der Mediziner. „Damit wir die maximale Lebenszeit von in etwa 140 Jahren erreichen können, muss aber alles passen. Sowohl mit Blick auf die Genetik als auch auf die Lebensumstände.“

Zellerneuerung als Determinante der Lebensdauer
Möchte man verstehen, warum unser Leben ziemlich genau auf 140 Jahre beschränkt ist, muss man sich mit dem allerkleinsten in unserem Körper beschäftigen: den Zellen. Damit ein Organismus am Leben bleibt, müssen sich die Zellen teilen und erneuern. Dass sie dies nicht unendlich oft können, hängt mit den Telomeren zusammen. „Telomere sind die Enden unserer Erbgutfäden, den Chromosomen. Sie dienen als Schutzkappe, aber sie werden bei jeder Zellteilung ein Stückchen kürzer“, so Dr. Späh. „Fehlen sie ganz, neigen die Enden der Chromosomen dazu, miteinander zu verkleben und die Zelle wird funktionsunfähig. Geschieht dies im großen Stil, endet das Leben.“ Basierend auf diesen Erkenntnissen, beschäftigt sich die Forschung schon seit Jahren mit einem Enzym namens Telomerase. Sie verlängert die schützenden Endkappen vor jeder Zellteilung ein kleines Stück, so dass die Telomere nachher kaum oder gar nicht an Länge verloren haben. Die Aktivität des Enzyms ist damit mitentscheidend für die „Fitness“ der Zelle und ihre Fähigkeit sich zu teilen. Die Krux: Auch die Teilung von Tumorzellen steht in einem direkten Zusammenhang mit dem Enzym.

Die Pulsfrequenz ist ein entscheidender Faktor
Für viele Menschen ist nicht nachvollziehbar, warum einige Lebewesen länger leben können als andere. Die Erklärung ist in der Pumpwiederholrate des Herzens zu finden. „Inzwischen wissen wir, dass der nahezu ideale Puls bei rund 60 Schlägen in der Minute liegt. Alles darunter und darüber wirkt sich lebensverkürzend aus“, verrät der Experte des Krefelder Maximalversorgers. Das Herz einer Maus schlägt beispielsweise mit rund 180 Schlägen in der Minute. Forscher glauben, dass man sich das Leben eben jener Lebewesen im Zeitraffer vorstellen müsse. Sie verstoffwechseln schneller , leben flüchtiger und sterben deutlich früher.

Bluthochdruck dringend vermeiden
Bluthochdruck, auch Hypertonie genannt, ist eine Erkrankung, die besonders in der westlichen Leistungsgesellschaft weit verbreitet ist. Über eine gewisse Dauer verhilft ein zu hoher Blutdruck sogar zu Höchstleistungen und besonderer Widerstandsfähigkeit, letztlich führt er aber unweigerlich zum verfrühten Tod. „Menschen mit Bluthochdruck sind extrem energetisch und leistungsfähig, sie werden nie krank und scheinen ein Leben auf der Überholspur zu führen. Nach fünf bis zehn Jahren ist das Herz allerdings am Ende. Die Patienten leiden dann unter Luftnot. An diesem Punkt ist es allerdings zu spät, es folgt die sogenannte Herzinsuffizienz. Die Pumpkraft des Herzens reicht dann nicht mehr aus, um das System mit Blut zu versorgen. Dank der modernen medizinischen Möglichkeiten ist eine früh erkannte Hypertonie medikamentös inzwischen aber sehr gut behandelbar. Grundsätzlich sind ein intaktes Herz-Kreislauf-System und funktionsfähige Gefäße ein essentieller Baustein für ein langes Leben. Der Zustand wird von zahlreichen Faktoren bestimmt.“ 

Ernährung und Gewicht
Was wir essen und wie wir essen, ist ganz entscheidend bei der Betrachtung der Lebensdauer. „Leider haben wir völlig verlernt, mit unserem Körper richtig umzugehen“, beklagt Dr. Späh und verweist auf den Verlust althergebrachter Strukturen. „Das gemeinsame Familien-Essen gibt es kaum noch. Heute schlingen viele Menschen hochverdichtete Nahrung einfach herunter. Das bekommt uns nicht. Wir müssen unserem Körper langsam Essen zuführen. Wie das aussehen sollte, können wir in Ländern lernen, die wissen, wie es geht. Zum Beispiel in Italien. Dort gibt es Antipasti nicht nur, weil es lecker ist, sondern um den Körper auf weitere Nahrung vorzubereiten. Das Resultat der falschen Ernährungsweise in Kombination mit der viel zu hohen Aufnahme von Zucker, sind Fettleibigkeit, zu hohe Cholesterinwerte und die Entwicklung von Diabetes Typ 2. Das hat wiederum eine Verkalkung der Gefäße und die Erhöhung des Blutdrucks zur Folge. Pro zehn Kilo Gewichtszunahme erhöht sich der Blutdruck um 20 Punkte.“ Das A und O, um Bluthochdruck, erhöhten Cholesterinwerten und Typ-2Diabetes vorzubeugen oder eine schon bestehende Krankheit optimal in den Griff zu bekommen, ist die richtige Ernährung. Ideal: weniger Kohlenhydrate (Kartoffeln, Nudeln, Getreide), reichlich Gemüse, Salate und Obst, Fisch und pflanzliche Öle. Obwohl ein zu hoher BMI als schädlich gilt, existiert in der Medizin das Phänomen des Adipositas-Paradox. Leicht übergewichtige Menschen leben demnach am längsten. „Man vermutet, dass das Fett wie ein natürliches Wärmeschild funktioniert und somit vor Infektionskrankheiten schützt“, so Dr. Späh weiter.

Stress muss nicht immer schlecht sein
Stress grundsätzlich zu vermeiden, gilt als oberstes Gebot in zahlreichen paramedizinischen Publikation. „Stimmt nicht“, sagt Dr. Späh. „Es hängt stark damit zusammen, welchem Bludrucktyp man entspricht. Während Menschen mit Tendenz zur Hypertonie tatsächlich ihr Stressniveau 'runterschrauben sollten, tut Stress denjenigen mit einem geringen Blutdruck sehr gut, sie kommen dann erst richtig in Fahrt und fühlen sich gut. Es ist sehr wichtig, bei der Berufswahl darauf zu achten, wie man beschaffen ist. Das machen allerdings nur die allerwenigsten.“ Wer Stress abbauen muss, macht dies am besten mit Bewegung. „Wer sich bewegt, sorgt dafür, dass Stresshormone wie Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin abgebaut werden. Es gibt aber auch Studien, die belegen, dass Singen einen ebenfalls positiven Einfluss hat. Das wissen nur wenige“, veranschaulicht der Experte.

Sport nur in Maßen
Bewegung ist gesundheitsfördernd, aber nur in Maßen. „Dreimal wöchentlich eine Stunde Sport ist völlig ausreichend“, gibt Späh als Faustregel aus. „Alles, was darüber hinaus geht, schädigt eher, als zu helfen. Menschen die sechsmal wöchentlich mehrere Stunden Sport treiben, schaden ihren Körper massiv. Das kann man sehr gut im Leistungssport erkennen. Nirgendwo werden mehr Medikamente benötigt als dort.“

Ein intaktes Immunsystem ist der beste Schutz vor Krebs
Neben Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehört Krebs zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland. Noch immer sind sich Mediziner uneins, welche Krebsarten genetisch bedingt sind und welche man durch das eigene Verhalten erwirbt. Sicher scheint aber, dass das Vermehren von Tumorzellen mit dem Immunsystem zusammenhängt. „In fast jedem Organismus kommt es tagtäglich zu entarteten Zellen. Ein intaktes Immunsystem wird damit aber locker fertig“, weiß Dr. Späh. „Es ist also besonders wichtig, unser Immunsystem bei Laune zu halten.“ Blickt man auf das weite Feld der Karzinome, so scheint ein Trend erkennbar. „60 bis 70 Prozent aller Krebserkrankungen sind vermeidbar, indem man einen vernünftigen BMI aufweist, nicht raucht und übermäßig Alkohol trinkt und sich ausreichend bewegt“, sagt Späh, ehe er typische Raucher- und Trinker-Krebsarten illustriert: „Raucher bekommen oft Krebs im Mund- und Rachenbereich, aber auch in der Blase, was viel weniger Menschen bewusst ist. Trinker erkranken oft an Magendarm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Inzwischen können wir aber auch einen klaren Zusammenhang zwischen unserer hochverdichteten Nahrung, zum Beispiel Fleisch, und Darmkrebs feststellen.“  

Schlaflosigkeit: Ein Joch unserer Zeit mit dramatischen Konsequenzen
Wenig und unruhiger Schlaf wirken sich massiv lebensverkürzend auf unseren Organismus aus. „Bekommt der Körper nicht ausreichend Schlaf, reagiert er mit absolutem Stress und fährt alle Systeme dauerhaft in Alarmbereitschaft. Was ausreichend Schlaf bedeutet, muss jeder individuell beurteilen. Die Faustregel sagt: Sechs bis acht Stunden sind gut. Wobei acht eher dem Ideal entspricht“, führt Späh aus.

Altwerden mit Köpfchen
Alle Untersuchungen über die Alterung des Gehirns mit begleitenden Schäden, beispielsweise in Form von Demenz, haben gezeigt, dass das Gehirn "Futter" braucht. Es braucht Abwechslung, es braucht Vergnügen, es braucht aber auch ernsthafte Arbeit und vor allen Dingen braucht es keine Extreme. Denn: Wenn das Gehirn überlastet wird, kann es Schaden nehmen. Klassische Überlastungen sind die Einflüsse extremer Computerarbeit und Smartphone-Benutzens sowie des Dauer-Fernsehens. Diese Reize schädigen die Fähigkeit zur Regeneration. Ganz anders ein Aufenthalt in Wald oder Garten: Die natürlichen Reize tun dem Gehirn sehr gut. Optimalerweise werden sie mit anspruchsvollen Tätigkeiten, wie z.B. dem Lesen, kombiniert.

Das nötige Quäntchen Glück
"Natürlich gehört auch ein Quäntchen Glück dazu, denn das Leben birgt viele Risiken. Aber aus medizinischer Sicht lässt sich sagen, dass eine Mischung aus allen Faktoren ausschlaggebend ist: Gute Gene, ein regelmäßiger Lebenswandel, das passende Gewicht, die richtigen Aufgaben fürs Gehirn, ein Partner und der Spaß am Leben. Und wer das beste Rezept für sich findet, hat tatsächlich die Chance, geistig aktiv und mit Genuss ein hohes Alter zu erreichen", fasst der Internist zusammen. Als Helga Wagner das Licht der Welt erblickte, gab es derlei medizinischen Leitfäden noch nicht. Sie hat einfach auf ihren Bauch gehört; das getan, was sich gut anfühlte und ihr guttat. Ein Stück weit fehlt dieser Dialog mit dem eigenen Körper und das Hineinhorchen zur inneren Stimme in der vorangegangen Auflistung. Genauso muss jeder selbst entscheiden, ob ein äußerst langes Leben erstrebenswert ist. Helga Wagner hat alle Verwandten und Freunde überlebt und fühlt sich deswegen oft einsam. Nicht aber im Kreis des Seniorenclubs, wo sie immer noch leidenschaftlich gerne zum Löffel greift und für die Jüngeren Eintöpfe kocht.

Helios Klinikum Krefeld, Lutherplatz 40, 47805 Krefeld, Tel. 02151/32-2238