Menschen mit Behinderungen haben keine Lebensfreude. Soweit das Vorurteil. Vanessa Zellmann ist das Gegenteil: Trotz oder gerade wegen ihrer körperlichen Behinderung ist die 19-Jährige leidenschaftliche Tänzerin. Und räumt in ihrem Leben eine Barriere nach der nächsten aus dem Weg.

Ein lindgrüner Freitag im Frühling. Die Luft riecht nach Blüten, der Himmel ist blau, die Baumwipfel leuchten in der Sonne. Vanessa atmet ein und wieder aus, für einen Moment schließt sie die Augen. Dann lehnt sie sich über die Brüstung ihres Balkons, lässt die Arme baumeln. Lächelt. Vanessa nickt, während sie um sich blickt. „Das Leben ist schön“ , sagt sie. 

Vanessa Zellmann, 19, sitzt im Rollstuhl. Als Baby kam sie mit einem offenen Rücken zur Welt. Diese Fehlbildung heißt „Spina Bifida“: Die Wirbelsäule ist an einer Stelle nicht um das Rückenmark geschlossen und das hat fatale Folgen. „Mein Kleinhirn liegt zum Beispiel an einer anderen Stelle im Kopf, als bei einem gesunden Menschen“ , erklärt Vanessa. Ihr Kleinhirn blockiert den Abfluss ihres Hirnwassers: Während bei einem gesunden Menschen das Hirnwasser regelmäßig von alleine in den Körper abfließt, damit sich im Kopf nicht zuviel Wasser sammelt, muss bei Vanessa ein implantiertes Ventil mit einem angeschlossenen Schlauch zwischen Kopf und Bauch nachhelfen. Auch wurde sie mit verformten Füßen geboren. Diese konnte man zwar operieren. Laufen kann sie aber bis heute nur ein paar Schritte. Dass sich Nerven und Muskeln durch ihr Loch im Rücken nicht entwickelt haben, macht sich auch durch eine Blasenlähmung bemerkbar: Vanessa kann nicht alleine zur Toilette, alle vier Stunden führt sie ab über einen Katheter. „Die Ärzte haben zu meiner Mutter gesagt, dass ich niemals lernen würde zu reden, dass ich eigentlich gar nichts lernen würde“ , sagt Vanessa. „Die Ärzte haben gesagt, dass ich nur sabbernd vor mich hinvegetieren und darauf warten würde, bis das Leben vorbei ist.“ Sie dreht sich weg von ihrem Balkon.

Rollt zurück in ihr buntes Wohnzimmer. In einer Ecke hängt eine Lichterkette mit kleinen weißen Herzen aus Holz, in einer anderen sieht man eine Fotocollage von ihr und Alina: Alina ist ihre vier Jahre ältere Lebensgefährtin und auch Rollstuhlfahrerin wie sie. Vanessa lebt in einem ländlichen Stadtteil Krefelds, in einer Anlage für betreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung. Dreimal pro Woche besucht sie eine Betreuerin, um sie bei allem zu unterstützen, was Vanessa alleine nicht kann. Duschen. Putzen. Kochen. Einkaufen. Und wenn die Betreuerin nicht da ist, hilft die Mutter, die ihre Tochter ohnehin von kleinauf pflegt. „Langfristig will ich aber immer mehr alleine können“ , betont Vanessa. „Ich bin ehrgeizig. Der Weg ist das Ziel.“

Sie spricht unaufgeregt, in kurzen klaren Sätzen. Sie ist aufmerksam, lässt ihr Gegenüber kaum aus dem Blick. Und sie überrascht. ,Was für eine intelligente Gesprächspartnerin' denkt man sich gerade im Stillen, da kommt sie plötzlich mit einer Lernschwäche um die Ecke. „Ich habe ein ganzes Jahr lang gebraucht, um die Uhr zu lernen“ , verrät Vanessa. „Und mit sieben oder acht Jahren habe ich erst Lesen und Schreiben gelernt.“ Sie kann sich nichts merken. Am wenigsten im Fach Mathematik. Wenn sie etwa eine Textaufgabe liest, um einen Dreisatz zu lösen, vergisst sie alles Gelesene sofort. Ein „vermindertes Kurzzeitgedächtnis“ sei eine weitere Folge ihrer Fehlbildung; die Lernschwäche ist der Grund, warum Vanessa Fördereinrichtungen wie die Montessori-Schule und die Gerd Jansen Schule in Krefeld und die Brückenschule Maria Veen in Coesfeld besuchte. Letzere hat sie nach der 10. Klasse verlassen. Im Moment arbeitet Vanessa in Krefeld in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Sie überlegt, wie es für sie beruflich weitergehen soll. Dass sie ihren Weg finden wird, ist für sie klar, und der Weg soll mindestens so barrierefrei sein wie ihre Wohnung. Extra breite Türrahmen lassen sie problemlos von einem Raum in den nächsten rollen. An einer niedrig gebauten Küchenzeile kann sie selber kochen, Wandschränke sind in Greifhöhe angebracht.

Auffallend viele glänzende Pokale befinden sich in diesen Schränken. Alles Trophäen, die Vanessa mit ihrer großen sportlichen Leidenschaft gesammelt hat, dem sogenannten „Rollstuhltanzen“, erzählt sie: „Dabei tanzen Rollstuhlfahrer entweder mit anderen Rollstuhlfahrern oder mit einem gesunden Partner Standardtänze, Discofox oder Lateintänze wie zum Beispiel Rumba.“ Seit 2012 ist Vanessa Mitglied im „Tanzclub Seidenstadt Krefeld“ , ein Tanzsportverein, der unter anderem auch Rollstuhltanzen anbietet und seine Räume im Gebäude des Krefelder Hauptbahnhofs hat. Gemeinsam mit Stefan, einem 34-jährigen Psychologen und langjährigen leidenschaftlichen Tanzsportler, hat sich Vanessa innerhalb weniger Jahre bis in die vordere Tanz-Liga gearbeitet. 2016 wurde sie mit Stefan etwa Deutscher Meister in den Lateintänzen beim „Mainhatten-Cup“ in Frankfurt. Ebenfalls 2016 gewann sie mit ihrem Partner die Siegertrophäe beim „German Open Championships“ in Stuttgart, um nur einige Auszeichnungen zu nennen. „Das Rollstuhltanzen hilft mir eigentlich am meisten dabei, meine Situation anzunehmen, wie sie ist“ , sagt Vanessa. Im Oktober 2017 lockt für sie und Stefan die Weltmeisterschaft in Belgien. Das ist auch der Grund, warum Vanessa jetzt dringend los muss. Mittlerweile ist es Abend, und freitagsabends ist immer Training im „Tanzclub Seidenstadt Krefeld“ . 

Dorthin begleiten wir Vanessa nun: in einen großen Tanzsaal mit wandhohen Spiegeln im Krefelder Bahnhofsgebäude. Stefan wartet schon auf seine Partnerin. Was sagte er eben noch? „Rollstuhlfahrer durchbrechen beim Rollstuhltanzen ihre Grenzen“ - als die Musik erklingt, sehen wir, was er meint. Stefan wiegt sich zur Rumba in den Hüften, da rollt Vanessa auf ihn zu. Dreht sich mit Grazie um die eigene Achse, ihr Oberkörper pulsiert, sie wirft den Kopf zurück.