Auf-Schneider mit Herzblut: Seit 2008 ist Dr. Christoph Wullstein Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeral-Chirurgie am HELIOS Klinikum Krefeld. Die Abteilung am Krefelder Hospital widmet sich der operativen Behandlung der Bauchorgane, und bei ihrem Chef stimmt das Bauchgefühl – nicht nur bei Operationen, auch für seinen Job. Ein Portrait.

Die Luft ist mild an diesem Donnerstag, die Vögel singen, die Sonne scheint, doch von dem frühlingshaften Intermezzo hat er heute noch nicht viel mitbekommen. Vier Operationen liegen an diesem Vormittag schon hinter Dr. Christoph Wullstein. „Vier OPs, das ist doch nicht viel“ , lacht der 49-Jährige und nimmt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Wullstein, braune Augen, dunkle Haare, obligatorischer Arztkittel, sitzt gerade in seinem Büro am Schreibtisch. Dass mehrere Stunden Arbeit im fast fensterlosen OP-Saal hinter ihm liegen, merkt man ihm nicht an, so frisch und munter wirkt er. Er überlegt kurz, dann nickt er, seine Augen blitzen. „Okay, bisher nur vier OPs, aber eine war doch schon ziemlich aufwändig heute früh. Da habe ich bei einem älteren Patienten den halben Dickdarm entfernen müssen.“ Eigentlich, sagt Dr . Wullstein, sei das ein Standard-Eingriff. Was war dann das Aufwändige, Komplizierte? „Es kommt ja immer darauf an, mit welchem Perfektionswillen man an eine Sache herangeht“ , sagt er. „Je genauer man operiert, desto höher ist die Heilungswahrscheinlichkeit für den Patienten. Hier zählt auch der letzte Lymphknoten.“ 

Dr. Wullstein ist Perfektionist und Spezialist für die schonende Chirurgie durchs „Schlüsselloch“: Bei dieser besonderen Form des Operierens führt der Mediziner stäbchenartige OP-Instrumente über kleinste Schnitte von höchstens fünf bis zwölf Millimetern in den Bauchraum. An den Instrumenten ist eine Kamera befestigt, die das Innere des Bauchraums filmt. Ihre Aufnahme wird auf einem angeschlossenen Bildschirm vergrößert dargestellt, und an diesem Bild kann sich Dr . Wullstein orientieren während er mit den Instrumenten in den Hautöffnungen hantiert. Die OP passiert also innerhalb der geschlossenen Bauchdecke. Es fließt praktisch kein Blut. „Und diese bluttrockenen Bilder sind hochfaszinierend“ , unterstreicht Dr. Wullstein, „weil sie so dermaßen gestochen scharf sind und es dadurch möglich machen, so präzise zu arbeiten. Inzwischen operieren wir nicht nur Darmkrebs auf diese Weise, sondern auch Bauchspeicheldrüsen- und Speiseröhrenkrebs.“

Perfektion und Präzision, mit diesen Triebfedern begann der gebürtige Würzburger 1986 auch sein Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 1993 arbeitete er als Operateur mit beruflichen Stationen in Remscheid, Hamburg, Rostock. Er war leitender Oberarzt der Klinik für Allgemein- und Gefäß-Chirurgie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, bevor er am 1. Dezember 2008 als Chefarzt der Klinik für Allgemein- und ViszeralChirurgie an das HELIOS Klinikum Krefeld wechselte. Ein Ort, an dem er viel Zeit verbringt, „im OP-Saal bin ich öfter, als in meinem Wohnzimmer“ , lacht der verheiratete Vater einer 14-jährigen Tochter. Minimum zwölf Stunden täglich ist er im Job, denn neben dem Operieren stehen etwa auch Visiten, Teamsitzungen, Tumorkonferenzen und Lehrtätigkeit auf der Agenda. „Aber wissen Sie was?“ , sagt Dr. Wullstein, „ich zähle die Stunden, die ich arbeite, gar nicht. Ich wusste eigentlich schon im Studium, dass ich mich auf der richtigen Seite des OP-Tisches befinde.“ Diese Einheit von Operation, Mensch und konkretem Ergebnis habe ihn von Beginn an gebannt. „Am Ende des Tages sehe ich genau, was ich gemacht habe. Und ich kann mir eine Antwort geben auf die Frage: Habe ich es gut gemacht oder nicht? War man erfolgreich, ist das wunderbar . War man nicht erfolgreich, dann ist das auch sehr belastend.“ Gibt es Abweichungen von einem geplanten OP- oder Behandlungsergebnis, analysiert Dr. Wullstein mit seinem Team, wo noch Verbesserungspotential besteht. Das ist dem Mediziner wichtig. Ebenso wie die richtige praktische Herangehensweise: Am OP-Tisch sei es notwendig „Gefühle auszuschalten, die Ratio anzuschalten“ . Das fällt natürlich umso schwerer, je persönlicher man den Patienten kennt. Oder? „Ja“ , nickt Dr. Wullstein. „Würde ein Kollege mich fragen, ob er seinen eigenen Bruder operieren solle, würde ich ihm eher abraten.“ Dr. Wullstein erinnert sich noch, wie seltsam es sich bei seinen ersten OPs als Jungmediziner angefühlt hat, in einen menschlichen Körper hineinzuschneiden. Die Haut mit dem Skalpell einzuritzen. Unter der Haut liegendes Gewebe zu durchtrennen. „Das war ein komisches Gefühl. Weil man die Integrität eines Menschen ja sichtbar verletzt. Man ist sich aber letztlich darüber bewusst, dass diese Verletzung gerechtfertigt ist – man möchte ja etwas Gutes damit erreichen“ , erklärt Dr. Wullstein. In früheren Jahren hat er während seiner Operationen Musik von Sting und Prince gehört, irgendwann stieg er auf Radio um. Irgendwann auf Ruhe. „Weil ich während einer OP keinen Taktgeber mehr wollte, wie das Radio, das mir mit den Nachrichten sagt, es ist schon wieder eine Stunde rum.“ Heute genießt er es, ganz ohne Taktgeber mit seinem Team beim Operieren in den richtigen „Flow“ zu kommen.  Wenn er so fokussiert ist, dass er nichts anderes verspürt als die Konzentration, wenn er keine Zeit spürt, keinen Hunger. Nur Konzentration. Wenn ihm die Schwestern die Instrumente anreichen, noch bevor er sie anfordert, „dann bin nicht nur ich im Flow, sondern das ganze Team – das ist bei uns keine Seltenheit“ , sagt er. 

Sein Diensthandy klingelt. Dr. Wullstein muss weg. Vorher nimmt er noch einen großen Schluck Kaffee aus der weißen Tasse auf seinem Schreibtisch. Kaffee, das ist sein Lebenselixier und morgens das Erste, Einzige mit dem er sich intensiv beschäftigt. Oder, nicht ganz. Wie war das noch mit dem Kopfkino, das bereits surrt, noch bevor er in die Klinik kommt? „Jeden Morgen gehe ich zuhause die OPs des Tages in Gedanken durch, im Prinzip operiere ich schon beim Frühstück“ , verrät Wullstein und steckt sich ein Stück Würfelzucker in den Mund. Nervennahrung.

HELIOS Klinikum Krefeld, Klinik für Allgemein-, Viszeral- & Minimalinvasive Chirurgie, Lutherplatz 40, 47805 Krefeld