Anfangs war es nur ein Spiel, gegen die Langeweile und Leere, die Britta Sarbok mit 40 Jahren in ihrem Leben empfand. Ihre Kinder wurden größer und brauchten sie nicht mehr ständig. Die gelernte Kinderkrankenschwester wollte wieder arbeiten, aber auf Bewerbungen erhielt sie nur Absagen. Sie begann, sich die Zeit im Internet zu vertreiben. Mit harmlos erscheinenden, kostenlos abrufbaren Rollenspielen.

Wer diese Spiele nicht kennt, kann sich kaum vorstellen, wie sie ihre „Gamer“ an den Computer zu fesseln versuchen: mit faszinierenden Bildwelten und Themen, etwa aus dem Bereich der Märchen und Mythen; mit permanenter Action, technisch aufwändig und perfekt in 3-D-Qualität, mit pathetischer Musik, die die abstrusen Figuren, Kulissen und Spielhandlungen noch überwältigender machen; mit vielen Wahlmöglichkeiten für die Spieler, zum Beispiel über den Bereich, in dem gespielt wird, mit wem man sich verbünden will, welchen Schwierigkeitsgrad die sogenannten Quests – das sind die Aufgaben, die gestellt werden – haben sollen; und natürlich, in welcher Rolle die Spielenden teilnehmen wollen. Diese Rolle gestaltet man nach eigenen Geschmack, und wenn man mehr möchte, um im Spielverlauf besser „voranzukommen“ – zum Beispiel mit bestimmten Kostümen, Werkzeugen oder  Waffen – dann geht das auch. Allerdings nur mit echtem Geld, in Wirklichkeit. Bei Britta Sarbok-Heyer war es das Phantasy-Spiel „Regnum“ . Darin muss sich jeder Spieler für eines von drei Reichen entscheiden, die um die Vorherrschaft streiten: Britta Sarbok-Heier erzählt: „Ich lebte in Alsius. Ich war eine Prinzessin, stark und schön. Ich habe eine rauschende Hochzeit gefeiert, und wenn ich nicht kämpfte, ritt ich auf meinem Pferd über blühende Wiesen“ . Eine Flucht in eine Traumwelt, in der Britta Sarbok-Heyer Erfolge feiern, mächtig und in allem so sein konnte, wie sie gern gewesen wäre. Dafür opferte sie in der realen Welt das Verständnis und Vertrauen ihrer beiden Kinder und ihres Mannes. Sie vernachlässigte ihre Familie zunehmend, und schließlich verließ sie sie sogar, um ungestört spielen zu können. Sie zog zu ihrem „Gatten“ aus „Alsius“ , das heißt, zu dem Mann, der ihn spielte. Und obwohl der ihr nicht gefiel, blieb sie bei ihm, um mit ihm zusammen vor dem Computer zu hocken und das „gemeinsame Reich“ zu verteidigen. Dabei entglitt ihr die Kontrolle über ihr Leben dann vollends: Denn zusammen kauften sie immer mehr der erwähnten „Unterstützungsgüter“, mit denen die Hersteller der Spiele das Geld verdienen. Und als Britta Sarbok-Heyers Ersparnisse aufgebraucht waren, schickte ihr „Held“ sie weg. Zum Schluss saß Britta Sarbok-Heyer 22 Stunden täglich vor ihrem Computer - vereinsamt, finanziell ruiniert und verwahrlost. Dass sie da wieder herausgekommen ist, nach vier Jahren extremer Spielsucht, verdankt sie einer eigentlich sehr negativen Lebenserfahrung: Sie war in einer Alkoholiker-Familie aufgewachsen und mit den Nöten Suchtkranker vertraut. Dadurch kannte sie die „Anonymen Alkoholiker“ . An diese Selbsthilfegruppe wandte sie sich in ihrer Verzweiflung und Scham; sie wusste, dass sie dort auf Verständnis stoßen würde, weil die anderen Gruppenmitglieder auch alle Probleme mit ihrer Sucht haben, nur eben mit einem anderen Mittel. Ein entscheidender Schritt heraus aus der Isolation und auch aus dem Gefühl, der Sucht ausgeliefert zu sein. Dass es zunächst die „Anonymen Alkoholiker“ waren, an die Britta Sarbok-Heyer sich wandte, lag auch daran, dass es noch gar keine Gruppe für Menschen mit dem Problem „Onlinesucht“ gab. Bis heute ist Onlinesucht übrigens nicht als Krankheit anerkannt, so dass Betroffene keinen Anspruch auf eine angemessene Suchttherapie haben. Doch es gibt inzwischen in Krefeld eine Selbsthilfegruppe für Onlinesüchtige: die einzige in einem Umkreis von 150 Kilometern. Britta Sarbok-Heyer gründete die Selbsthilfegruppe und rettete damit auch sich selbst. Über die „Anonymen Alkoholiker“ lernte sie Claudia Dässel kennen. Die 35-Jährige arbeitet als Sozialpädagogin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Der „Paritätische“ ist in Krefeld Ansprechpartner für etwa 100 verschiedene Selbsthilfegruppen; Claudia Dässel und ihre Kolleginnen informieren, beraten und vermitteln Hilfesuchende in die Selbsthilfe oder helfen ihnen in bei der Neugründung von Gruppen. 2013 hatte Claudia Dässel bereits mehrere Hilferufe von Onlinesüchtigen vorliegen. Aber erst Britta Sarbok-Heyer war bereit, dafür auch selbst eine Gruppe zu gründen. 

Denn die Selbsthilfe-Kontaktstelle des Paritätischen bietet nur den organisatorischen Rahmen und vermittelt die Kontakte. Verantwortliche, Gruppenleiter oder „Experten“ stellt sie nicht bereit. Darin liegt ja die Selbsthilfe. Claudia Dässel erklärt es so: „Echte Hilfe gibt es für Suchtkranke nur, wenn sie selbst aktiv werden. Jeder Ratschlag ist ein Schlag. Denn er zeigt den Betroffenen wieder nur, wie ‘falsch’ und schwach ihr Verhalten ist. Davon haben sie gar nichts! Aber wenn sie selbst etwas machen, ihre Probleme benennen und sich mit Gleichgesinnten austauschen, dann hilft das, weil sie in der Gruppe Verständnis finden und aufgefangen werden. Und indem sie selbst das für andere tun, lernen sie auch, wieder für sich selbst zu sorgen.“ Genau so war es auch bei Britta Sarbok-Heyer. Sie engagierte sich für die und in der Online-Selbsthilfegruppe – und dadurch schaffte sie es, seit 2010 „suchtmittelfrei“ zu leben und wieder zu ihrem Mann und ihren Kindern zurückzukehren. Dennoch braucht sie die Selbsthilfegruppe weiter. Denn wie bei der Alkohol- oder Drogensucht besteht immer die Gefahr, rückfällig zu werden. Sogar noch eher als bei diesen „stoffgebundenen“ Suchterkrankungen betont Claudia Dässel: „Abstinenz von Alkohol, Medikamenten oder Drogen, das geht, aber wie wollen sie noch ohne einen Computer leben – geschweige denn arbeiten?“ In der Online-Selbsthilfegruppe, in der sich außer Spielsüchtigen auch Kommunikations- und Online-Sexsüchtige treffen und austauschen, hat Britta Sarbok-Heyer jedenfalls eine Methode gelernt, die ihr hilft, mit den Verlockungen des Internets umzugehen. Sie nennt es ihre „Ampel“: Grün für die täglichen Erledigungen in Alltag und Beruf. Denn Britta Sarbok-Heyer arbeitet jetzt wieder in ihrem alten Beruf als Kinderkrankenschwester, da gehört das dazu. Gelb für Chats und Facebook: Vorsicht, bedenkliche Zeitfresser. Und rot für sämtliche Computerspiele. Alarm, Stop, Halt! Denn in die Online-Spielsucht, dahin will sie nie wieder.

Selbsthilfe-Kontaktstelle Krefeld, Mühlenstr. 42, 47798 Krefeld, Tel. 02151-9619025; www.selbsthilfe-krefeld.de; selbsthilfe-krefeld@paritaet-nrw.org